Freitag, 9. November 2012
Die Seiltänzerin
Als ich auf dem Weg zu Dir war, hatte es bereits angefangen zu regnen. Ich hatte wie immer meinen Regenschirm vergessen und so lief ich zunächst griesgrämig, danach aber reichlich amüsiert über den Umstand, dass ich immer einen Regenschirm dabei hatte, wenn die Sonne schien und nie einen dabei hatte, wenn es regnete zum Bahnhof. Und wie ich so lief, neben der laut befahrenen Straße, bemerkte ich all die Regenwürmer auf dem Weg. Ich wich ihnen aus, doch es wurden immer mehr bis schließlich der gesamte Boden mit Regenwürmern übersät war. Die armen Tierchen krochen nach jedem Regenguss auf den Asphalt, obwohl ich ihnen immer sagte, dass sie zur anderen Seite kriechen sollten. Da ich diese armen Tierchen, die in ihrer ganzen Torheit doch Respekt verdienten, nicht tottrampeln und schon gar nicht anschließend an meiner Schuhsohle kleben haben wollte, nahm ich mein Seil, das ich zufällig immer bei mir trug, aus der Tasche und spannte es im Himmel an den Wolken auf. Ich spannte das gesamte Seil bis hin zu Dir. Ich musste einige Male neu anfangen, da der Regen die Enden, an denen ich das Seil mit den dicken Regenwolken verknotet hatte, wieder auflöste und so brauchte ich drei Tage, um mein Seil über den Regenwürmern bis zu Deinem Haus zu spannen. Als es fertig war leitete mich der Regenbogen in den Himmel empor und ich sprang auf mein Seil. Ich balancierte zusätzlich in meiner rechten Hand einen Sack voller Kaffeebohnen - die die Du besonders magst, ich wollte nicht mit leeren Händen erscheinen - und in der Linken meine Handtasche, die ich vor Jahren in einem Shop für einmalige Mode erstand und die ein unverwechselbarer Teil von mir war. Nun war sie schon so schwer geworden, dass sie meine Hand lähmte. Mein Kopf trug einen Blumentopf mit einer prächtigen Orchidee, die nur von meiner Liebe genährt und gezogen wurde. Ich ging immer weiter und schneller voran, balancierte meinen Körper, der eigentlich nur noch einer Waage glich und Mittel zum Zweck war und behielt Dich, Deine Augen, Deine Nase immer im Blick. Unter mir die Regenwürmer, hinter mir der Regenbogen, über und neben mir die Regenwolken und vor mir - nur Du. Nach weiteren drei Tagen kam ich bei Dir an. Ich klopfte an der Tür und kletterte anschließend über das Seil hinauf auf Deinen versteckten Balkon. Die Balkontüre war offen, Du erwartetest mich bereits. Die Handtasche hatte ich auf dem Weg zu Dir verloren. Sie ist mit meiner Hand abgefallen. Ich trauerte zwar um sie, doch ich wurde mir schnell bewusst, dass es doch Dich für mich gibt, dass Du sie ersetzen kannst, wenn Du willst. Ich gab Dir die Kaffeebohnen, Du hast Dich gefreut. Ich habe es an Deinen Augen gesehen, sie waren voller Sternenstaub, als ich ankam. War es dieser Sternenstaub, der Kostbare, der mich an Dir festhielt? War es dieses eine Quäntchen Glück, welches ich verspürte, wenn ich Dich traf? Wir hatten wenig Zeit, zwei Stunden und Du kehrst wieder in Deinen Alltag zurück. Wir liebten uns, hielten die Zeit an, meine Lippen wollten eine Sprache mit Dir sprechen, die Du nicht verstehst. Ich sammelte Sternenstaub und packte ihn in meine neue Tasche. Ich trug diese Tasche allerdings nicht mehr auf meiner linken Hand. Für den Rückweg war es zu gefährlich und außerdem war meine linke Hand bei meiner letzten Balancieraktion abgefallen. Ich schluckte die Tasche also, kurz bevor ich ging, herunter und versteckte sie gut hinter meiner linken Brust. Wir küssten uns lang, innig, länger. Den ganzen Sternenstaub sammelte ich auf. Ich wollte, dass Du mir hilfst, aber Deine Hände waren auf Deinem Rücken zu einem Knoten verwachsen. Ich liebte Dich. Ich liebte alles von Dir. Als wir uns trennten, wieder einmal, sprang ich auf mein Seil auf. Die Sonne schien, am Horizont sah ich allerdings nur noch Nebelschwaden. Ich nahm mein Seil ab, die Erde war getrocknet und die ganzen Regenwürmern wieder in ihren kleinen Regenwurmwohnungen. Ich lief mit kleinen Schritten, drehte mich oft um, sah noch einen Hauch Sternenstaub in der Luft hängen, hörte Deine Stimme, die auf einmal in meiner Sprache sprach. Als ich an die Stelle kam, an der ich mein Seil das letzte Mal aufgespannt hatte, blickte ich zwischen dem dichten Nebel auf den Boden. Die Regenwürmer lagen immer noch dort. Totgetrampelt, vertrocknet. Lieb- und leblos.

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